von Denise Pätzold
Geist & Seele
Es gehört zu den größten Herausforderungen unseres Lebens: loszulassen. Loszulassen bedeutet nicht, zu vergessen oder gleichgültig zu werden – sondern Frieden mit dem zu schließen, was war, und Raum zu schaffen für das, was werden darf.
Ob es alte Verletzungen, enttäuschte Erwartungen oder übermäßige Kontrolle sind – festzuhalten kostet Kraft. Wer lernt, loszulassen, befreit sich von innerem Druck und öffnet sich für Gelassenheit, Vertrauen und Lebensfreude.
Warum wir festhalten – und was das mit unserem Gehirn zu tun hat
Psychologisch betrachtet liegt das Festhalten in unserer Natur. Das menschliche Gehirn ist darauf programmiert, Sicherheit zu suchen. Bekanntes – selbst wenn es schmerzhaft ist – vermittelt Kontrolle. Loslassen hingegen bedeutet Ungewissheit.
In der kognitiven Verhaltenstherapie wird dieses Prinzip als Verlustangst oder Kontrollbedürfnis beschrieben: Wir klammern uns an Gedanken, Beziehungen oder Gewohnheiten, weil sie uns Orientierung geben. Doch paradoxerweise blockieren wir damit oft das, was uns innerlich wachsen lässt.
Neurowissenschaftlich gesehen aktiviert Festhalten dieselben Stressregionen im Gehirn, die auch bei Angst ansprechen. Loslassen hingegen aktiviert Areale, die mit Vertrauen, Akzeptanz und Selbstwirksamkeit verbunden sind.
Loslassen heißt nicht aufgeben
Viele Menschen verwechseln Loslassen mit Aufgeben. Doch es ist genau das Gegenteil: Es ist ein Akt innerer Stärke. Wer loslässt, entscheidet sich bewusst, das Unveränderliche anzunehmen, anstatt gegen es anzukämpfen.
„Akzeptanz bedeutet nicht Resignation, sondern die Erkenntnis, dass das Leben weitergehen darf.“
In der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) ist Loslassen ein zentrales Prinzip. Sie lehrt, Gedanken und Gefühle nicht zu unterdrücken, sondern sie wahrzunehmen, ohne sich von ihnen bestimmen zu lassen. So entsteht Raum für das, was wirklich zählt – für Werte, Ziele und Lebensfreude.
Die drei Ebenen des Loslassens
1. Vergangenes loslassen
Unverarbeitetes aus der Vergangenheit wirkt oft weiter, weil wir innerlich dagegen ankämpfen. Loslassen bedeutet hier, anzuerkennen, dass etwas geschehen ist – ohne es ständig neu zu bewerten. Psychologisch nennt man das emotionale Integration: Gefühle dürfen gefühlt und benannt werden, bis sie an Kraft verlieren.
Übung:
- Schreibe auf, was du bisher nicht loslassen konntest.
- Ergänze jeden Satz mit: „Ich erkenne an, dass es geschehen ist – und entscheide mich, weiterzugehen.“
- Zerreiße das Blatt – als sichtbares Zeichen, dass du dich von der Last befreist.
2. Erwartungen loslassen
Erwartungen sind oft der Ursprung von Enttäuschungen. Wir wünschen uns, dass Menschen, Situationen oder das Leben einem bestimmten Bild entsprechen – und leiden, wenn es anders kommt. Loslassen bedeutet hier, Realität und Wunsch zu trennen.
In der Psychologie spricht man von kognitiver Flexibilität: Wer flexibel denken kann, passt sich leichter an Veränderungen an und bleibt innerlich stabil.
Reflexionsfrage: Was würde passieren, wenn ich meine Erwartungen für einen Moment loslasse und einfach beobachte, was wirklich ist?
3. Kontrolle loslassen
Kontrolle vermittelt Sicherheit – aber sie kann uns auch gefangen halten. Ständiges Planen, Sorgen oder Perfektionismus führen oft zu Stress, weil sie das Unplanbare ausschließen wollen.
Loslassen bedeutet hier: Vertrauen ins Leben zu entwickeln – nicht im Sinne von Fatalismus, sondern in der Gewissheit, dass wir nicht alles steuern müssen, um sicher zu sein.
Mini-Übung für den Alltag:
- Wenn du merkst, dass du verspannst oder grübelst, atme bewusst aus.
- Sage innerlich: „Ich lasse los, was ich nicht beeinflussen kann.“
Allein dieser Satz kann den Parasympathikus aktivieren – das Nervensystem, das für Ruhe und Entspannung sorgt.
Was passiert, wenn wir loslassen
Psychologisch betrachtet führt Loslassen zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit: Vom Mangel hin zur Akzeptanz, vom Widerstand hin zur Gegenwart. Studien zeigen, dass Menschen, die regelmäßig Achtsamkeit und Akzeptanz praktizieren, weniger Stress empfinden, emotional stabiler sind und sich als freier erleben.
Loslassen ist kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess – manchmal schrittweise, manchmal schmerzhaft, immer aber befreiend. Je öfter wir ihn üben, desto natürlicher wird er.
Ein kleiner Perspektivwechsel
Fragen dich nicht: Wie kann ich das loslassen? Sondern: Was möchte in mir frei werden, wenn ich es loslasse?
Diese Haltung verändert alles. Loslassen wird so zu einem Weg, sich selbst neu zu begegnen – leichter, gelassener, menschlicher.
Fazit: Freiheit beginnt im Inneren
Die Kunst des Loslassens bedeutet, sich vom Zwang der Kontrolle zu befreien und das Leben in seiner Wandelbarkeit anzunehmen. Sie ist keine Schwäche, sondern Ausdruck von Reife und innerer Stärke.
Wer lernt loszulassen, gewinnt nicht weniger, sondern mehr: Mehr Klarheit, mehr Frieden – und die Freiheit, das Leben so zu nehmen, wie es ist.