von Denise Pätzold

Geist & Seele

Warum Verdrängen langfristig belastet – und wie wir einen ehrlichen Umgang mit Emotionen entwickeln

Viele Menschen haben gelernt, Gefühle zu kontrollieren, zu relativieren oder „wegzudenken“. Besonders unangenehme Emotionen wie Angst, Traurigkeit, Scham oder Wut gelten oft als hinderlich oder unpassend. Doch Gefühle lassen sich nicht einfach abschalten. Was wir nicht fühlen wollen, wirkt trotzdem weiter – häufig im Hintergrund, als innere Anspannung, Erschöpfung oder körperliche Beschwerden.

Gefühle zulassen zu lernen bedeutet nicht, ihnen ausgeliefert zu sein. Es bedeutet, sie wahrzunehmen, zu verstehen und einzuordnen. Das ist eine zentrale Fähigkeit für psychische Gesundheit und innere Stabilität.

Warum Verdrängen langfristig belastet

Emotionen sind biologische und psychologische Reaktionen auf das, was wir erleben. Sie liefern wichtige Informationen über Bedürfnisse, Grenzen und innere Konflikte. Werden Gefühle dauerhaft unterdrückt, verschwinden sie nicht – sie verändern nur ihre Ausdrucksform.

Langfristiges Verdrängen kann sich zeigen als:

  • innere Leere oder emotionale Abflachung
  • Reizbarkeit oder plötzliche Gefühlsausbrüche
  • chronischer Stress, Schlafprobleme oder Erschöpfung
  • psychosomatische Beschwerden
  • das Gefühl, „nicht richtig bei sich“ zu sein

Psychologisch gesehen kostet Unterdrückung viel Energie. Das Nervensystem bleibt in Alarmbereitschaft, weil ungelöste emotionale Reaktionen weiterwirken.

Der Umgang mit unangenehmen Emotionen

Unangenehme Gefühle sind nicht falsch – sie sind oft Hinweise auf etwas Wesentliches:

  • Angst zeigt mögliche Bedrohungen oder Überforderung.
  • Traurigkeit weist auf Verlust, Abschied oder unerfüllte Bedürfnisse hin.
  • Wut signalisiert Grenzverletzungen oder Ohnmacht.
  • Scham entsteht häufig im Zusammenhang mit sozialen Erwartungen.

Der gesunde Umgang mit diesen Emotionen beginnt nicht mit Bewertung, sondern mit Wahrnehmung. Gefühle wollen zuerst gesehen, nicht sofort gelöst werden.

Eine hilfreiche Grundhaltung lautet:

„Ich darf fühlen, ohne sofort handeln oder mich rechtfertigen zu müssen.“

Emotionale Kompetenz statt „positiv denken“

„Positiv denken“ kann kurzfristig entlasten, wird aber problematisch, wenn es dazu dient, echte Gefühle zu überdecken. Emotionale Kompetenz geht einen Schritt weiter. Sie umfasst:

  • Gefühle wahrnehmen und benennen
  • sie im Körper spüren können
  • ihre Auslöser erkennen
  • zwischen Gefühl und Handlung unterscheiden
  • angemessen mit Emotionen umgehen

Emotionale Reife bedeutet nicht, immer ruhig oder optimistisch zu sein, sondern innerlich ehrlich und flexibel.

Wie lernt man, Gefühle zu fühlen?

Viele Menschen haben den Zugang zu ihren Gefühlen nicht verloren – sie haben ihn nie bewusst gelernt. Der Weg zurück beginnt meist über den Körper, nicht über den Kopf.

Wichtige Grundlagen:

  • Langsamkeit: Gefühle zeigen sich nicht auf Knopfdruck.
  • Sicherheit: Ein ruhiger, geschützter Rahmen ist entscheidend.
  • Akzeptanz: Kein Gefühl muss sofort verändert werden.
  • Der erste Schritt ist oft schlichtes Innehalten: Was ist gerade in mir los – ohne Analyse, ohne Bewertung?

Wie bekommt man Zugang zu seinen Gefühlen?

Gefühle äußern sich häufig körperlich, bevor sie gedanklich klar werden:

  • Enge im Brustraum
  • Druck im Bauch
  • Spannung im Kiefer oder Nacken
  • Müdigkeit oder innere Unruhe

Wer lernt, diese Signale wahrzunehmen, findet leichter Zugang zu den zugrunde liegenden Emotionen. Fragen können dabei helfen:

  • Was spüre ich gerade im Körper?
  • Ist dieses Gefühl eher schwer oder leicht?
  • Wenn dieses Gefühl sprechen könnte – was würde es sagen?

Es geht nicht um perfekte Antworten, sondern um Aufmerksamkeit.

Übungen, um Gefühle zuzulassen

1. Gefühl benennen (2–3 Minuten)

  1. Setze dich ruhig hin und frage dich:
  2. Welches Gefühl ist im Moment am stärksten?
  3. Wähle ein Wort, das möglichst genau passt (z. B. enttäuscht statt traurig, angespannt statt gestresst).

Allein das Benennen kann regulierend wirken.

2. Körperwahrnehmung ohne Bewertung

  1. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Stelle im Körper, an der du das Gefühl spürst.
  2. Atme ruhig weiter.
  3. Versuche nichts zu verändern.
  4. Beobachte nur, ob sich etwas verschiebt.

Diese Übung stärkt die Fähigkeit, Gefühle auszuhalten, ohne von ihnen überwältigt zu werden.

3. Schreibübung: Innere Ehrlichkeit

  1. Schreibe für fünf Minuten ohne Unterbrechung:
  2. Was fühle ich gerade wirklich – auch wenn es unbequem ist?
  3. Der Text muss niemandem gefallen und wird nicht bewertet.

Oft entsteht dadurch Klarheit und emotionale Entlastung.

4. Gefühl und Handlung trennen

Wenn ein starkes Gefühl auftaucht, sage innerlich:

  1. „Ich fühle Wut (oder Angst, Traurigkeit) – und ich entscheide später, was ich tue.“

Diese innere Distanz verhindert impulsives Handeln und stärkt Selbstregulation.

Wege zu mehr innerer Ehrlichkeit

Innere Ehrlichkeit bedeutet, sich selbst nichts vorzumachen – ohne sich dafür zu verurteilen. Sie wächst durch:

  • regelmäßige Selbstreflexion
  • das Erlauben von Ambivalenz („Ich kann zwei widersprüchliche Gefühle gleichzeitig haben“)
  • achtsamen Austausch mit vertrauenswürdigen Menschen
  • Geduld mit sich selbst

Gefühle zulassen ist kein einmaliger Schritt, sondern ein Lernprozess. Mit jedem Moment, in dem wir uns selbst ernst nehmen, wächst die innere Stabilität.

 

Fazit

Gefühle zuzulassen heißt nicht, schwach zu sein – sondern verbunden. Wer lernt, seine Emotionen wahrzunehmen und einzuordnen, lebt nicht konfliktfrei, aber stimmiger. Innere Ehrlichkeit schafft Klarheit, und Klarheit ist eine der wichtigsten Grundlagen für seelisches Wohlbefinden.

Weitere interessante Beiträge & Inspirationen zum Thema

Zurück